Die Sicht des Anderen – eine Hypothese

Herbert war geschlaucht vom heutigen Tag. Er war von der Früh an unterwegs und schuftete den ganzen Tag im Büro. Es war ein Tag wie viele andere. Er hatte nie gemerkt, dass sich in der Welt etwas veränderte, es war keine Zeit da. Ihm fiel natürlich auf, dass sich die Menschen anders verhielten und einfach weniger los war. Es war weniger los…aber nicht bei ihm in der Arbeit. Nein, da war immer schon viel los. Die letzten 15 Jahre schon. Immer volle Kanne Arbeit und keine Zeit zum Ausruhen. Das mochte er aber auch. Er wollte nicht unbeschäftigt im Büro sitzen und vielleicht sogar mal Smaltalk mit einer Kollegin führen, weil sie Zeit hatte und er auch grad nicht viel zu tun. Na ja, es wäre schon mal schön gewesen sich mit einer der Buchhaltungsdamen auszutauschen. Sind ja auch ein paar adrette Damen dabei und sie wirken auch so nett. Wenn er heim ging, sein Weg war nicht weit, konnte er sich gut auf den kommenden Abend einstellen. Sich vielleicht noch überlegen wie er heute Kochen wollte und was es im Abendprogramm gab. Die 12 Minuten Fußweg konnte er gut für sich nutzen, um von der Arbeit runter zu kommen und an Privates zu denken. Heute war dies anders. Er grübelte schon in der Arbeit und kam nicht weg davon, darüber nachzudenken was er an diesem Abend mit sich alleine anfangen sollte. Dann fiel ihm auf, dass er noch nie so gegrübelt hatte, die ganzen 15 Jahre nicht und ob das davor der Fall war, fiel ihm gerade nicht ein. Ein komisches Gefühl machte sich breit und er stopfte sich den Rest des mittlerweilen trockenen Kipferl in den Mund, um sich abzulenken. Er packte seine Tasche und holte den Mantel von der Garderobe, den er sich über den Unterarm legte, um raus zu preschen. Nochmal schnell schauen, ob der PC auch wirklich runter gefahren ist und ob die Tischlampe noch an ist und dann los. Er ging in den langen Gang hinaus und bewegte sich in Richtung Stiegenhaus, als aus der Buchhaltung die schöne dunkelhaarige Kollegin raus blickt. „Ah, Herbert! Gehst du schon?“ „Ja, bin am Weg. Hättest noch was gebraucht?“ „Na ja ich wollt fragen ob du noch Zeit hast für a Tratschal. Hihi!“, die Dame mit grauem Rock und langem Haar blickte über ihre Brille und lächelte verschmitzt. Herbert wurde es unangenehm warm am Oberkörper und er fing an zu stottern: „Du heut geht´s leider ned. Morgen vielleicht?“ „Schad, ich hab mich grad so aufgerafft dich zu fragen. Puh. Ja, klar, dann morgen. Machs gut!“, sie machte eine Kehrtwendung und Herbert konnte ihr nur mehr kurz nachschauen ehe sich die Tür zur Buchhaltung hinter der Dame schloss. Na super! Das Grübeln begann nun von Neuem. Egal, er machte sich weiter auf den Weg und verließ das Bürogebäude. Einkaufen musste er heute nicht und er ging schnurstracks nach Hause. Das unwohlige Gefühl im Oberkörper und Hals ließ nicht locker. Er schluckte und ärgerte sich, dass er der Kollegin eine Abfuhr gegeben hatte. Noch dazu die Bemerkung, dass sie sich aufgerafft hatte. Hatte sie ein Auge auf ihn geworfen? Ein lautes Hupen eines SUVs ließ ihn wieder aus seinem Tagtraum erwachen. Er fand sich mitten am Zebrastreifen bei roter Ampel wieder und blickte einer etwa 50jährigen blonden Geschäftsfrau tief in die Augen, die gerade ein zweites Mal die Hupe betätigte. Er winkte ihr mit verwirrten Blick und ging schnell auf die andere Straßenseite weiter. Er hätte doch mit ihr ein paar Worte reden sollen. Ach, der ganze Abend ist jetzt dahin weil er nicht auf das Gespräch eingegangen ist. Kurz überlegte er sogar nochmal umzudrehen um ihr zu erklären, dass er doch noch ein wenig Zeit hätte zum Plaudern, doch dafür war er dann doch zu feige.

Zuhause angekommen warf er einen Blick in den Briefkasten, um nachzusehen ob für ihn Post gekommen war. Da sieht er einen rechteckigen Sticker auf dem Briefkasten und liest sich durch, was darauf steht. „Nein zum Impfzwang!“, steht in großen roten Buchstaben darauf und einige Internetadressen dazu. Diese ganzen Impfgegner haben uns das alles angetan, kommt es ihm hoch. Wir reden alle nicht mehr miteinander, weil sich alles gespalten hat und keiner mehr etwas mit dem Anderen zu tun haben will! Und jetzt regen die sich auch noch auf, dass sie sich Impfen lassen müssen. Sollen sie doch einfach Impfen gehen. Dann ist alles vorbei und wir können wieder normal leben. Herbert stellte die Tasche ab und versuchte, den Aufkleber zu lösen. Wie nicht anders zu erwarten, war es einer von denen, die nicht so ohne weiteres herunter zu bekommen waren. Ein paar Streifen konnte Herbert lösen und als der Sticker halbwegs unkenntlich war kam eine Nachbarin vorbei und grüßte ihn. Er tat als würde er noch schnell nach der Post sehen, die er aber schon in seiner linken Hand hielt und grüßte zurück. Verärgert hob er die Tasche auf und ging rauf in seine Wohnung. Dann kochte er sich Spaghetti und drehte den Radio auf. Ein Nachrichtenmarathon lief an und er dachte immer noch an diesen Sticker. Ihm fiel ein, dass er ein gutes Lösungsmittel zuhause hatte und nahm sich vor, in der Nacht nochmal nach unten zu gehen, um dem Briefkasten wieder Glanz zu verleihen. Zufrieden mit dieser Idee schmatzte Herbert seine Spagetti mit Tomatensoße und schaute fern.

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